
Orthorexie: Angst vor vermeintlich schädlichen Nahrungsmitteln
Einen Bissen vom Apfel kaut sie genau 35 Mal, und der Apfel muss vom Bio-Bauern sein. Jogurt macht sie selbst, genau wie Nudeln. Brot gibt es nur selten, und wenn, dann muss es aus Bio-Dinkel sein: „Ich will mich gesund ernähren, und deshalb muss ich wissen, was in meinem Essen drin ist“, erzählt Nathalie (37). Die Verwaltungsfachangestellte aus Dortmund hat Orthorexie. Das ist der Fachbegriff für eine neue Essstörung: Die Betroffenen sind besessen vom Zwang, nur die gesündesten Lebensmittel zu essen. Sie studieren stundenlang Zutatenlisten – Mehl, Zucker und Zusatzstoffe sind komplett verboten. Sie beschäftigen sich zunehmend mit ihrer Ernährung und entwickeln eine fast panische Angst vor vermeintlich schädlichen Nahrungsmitteln. Soziale Isolation und Mangelernährung können die langfristigen Orthorexie-Folgen sein.
Vor zwei Jahren hat es bei dem überzeugten Single angefangen, eigentlich ganz harmlos. „Ich wollte mich einfach gesünder ernähren“, erzählt Nathalie, „denn ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, weil ich abends oft Fertiggerichte wie Pizza oder Dosensuppen gegessen habe. Das war super praktisch, und geschmeckt hat es mir auch. Aber das ist so ungesund, habe ich überall gehört.“
Komplette Umstellung der Ernährung
Also kaufte sie sich einen Ernährungs-Ratgeber. „Beim Lesen ist mir echt ein Licht aufgegangen“, erinnert sich Nathalie. „Mir ist plötzlich klar geworden, wie ungesund ich mich ernähre. Viel zu viel Zucker, viel zu viel Mehl, viel zu viele Zusatzstoffe. Ich war geschockt darüber, was ich meinem Körper bisher angetan hatte.“ Sie stellte ihre Ernährung um: „Fertiggerichte gab’s ab sofort nicht mehr, auch keine Brötchen, kein Baguette und keine Croissants. Ich kaufe auch nichts mehr, was eingeschweißt ist, in dem Plastik sind ja auch gesundheitsgefährdende Stoffe. Stattdessen Obst und Gemüse – alles bio – zusätzlich Vitamine und Spurenelemente, Algen und Chia-Samen, kein Fleisch, keine Kuhmilch, kein Weizen.“
Sie gibt sogar den Verkäufern Tipps
Nathalie durchforstet nun stundenlang das Internet nach neuen Erkenntnissen. Im Reformhaus und im Bioladen ist sie Stammkundin. Inzwischen gibt sie sogar den Verkäufern Tipps. Auch der Alltag hat sich verändert: „Früher bin ich mit meinen Kollegen mittags essen gegangen, Currywurst, Erbsensuppe oder ein Brötchen. Das geht nicht mehr – zu ungesund.“ Nathalie fühlt sich besser, fitter, gesünder. Angenehmer Nebeneffekt ihrer neuen Ernährung: Sie nimmt langsam, aber stetig ab. Allerdings wird es immer schwieriger, das Privatleben und ihre neuen Essensgewohnheiten zu vereinbaren: „Abends mit Freunden ins Restaurant gehen, das kann ich nicht mehr, weil ich mich ekele“, erzählt Nathalie. „Weiß man, was der Koch da zusammengepanscht hat? Und auch, wenn ich bei Freunden zum Essen eingeladen bin, krieg ich keinen Bissen mehr runter.“
Ihre Freunde sieht sie nicht mehr
Ein einschneidendes Erlebnis hatte sie vor zwei Monaten bei der Geburtstagsfeier ihrer Freundin Yvonne. Sie ist Ärztin. „Es gab dort ein Büfett, Salate, Käse, Aufschnitt und kalten Braten. Ich mochte nichts davon. Aber ich habe Yvonne erklärt, was sie stattdessen essen soll und warum. Sie hat mir gesagt, das sei mittlerweile krankhaft. Das hat mich sehr verletzt.“ Zu Hause setzt sie sich gleich wieder an den PC. „Da habe ich zum ersten Mal Orthorexie gegoogelt. Aber ich finde nicht, dass diese Diagnose auf mich zutrifft.“
Ihre Freunde sieht sie nicht mehr. Dafür bastelt Nathalie weiter an ihrem Ernährungsplan. „Ich ernähre mich bewusst und gesund, was ist denn daran falsch?“, fragt sie. „Ich habe Angst, mich zu vergiften, ich habe Angst vor Zusatzstoffen und vor Zucker.“ Nathalie vermeidet inzwischen auch Soja- und Milchprodukte, Mais, Brot, Zucker, schwarzen Tee, Kaffee. Sie ernährt sich hauptsächlich von Rohkost, Samen, Nüssen und Bio-Obst, und sie kaut jeden Bissen genau 35 Mal. Ihre Freunde machen sich Sorgen. Zu Recht.
Interview: Ab wann wird’s gefährlich?
Was ist Orthorexie eigentlich genau?
Clemens Janssen, Ernährungsexperte aus Hamburg: „Orthorexie ist ein zwanghaftes Verlangen nach vermeintlich gesunder Ernährung, die aber im Gegenteil eher einer Mangelernährung entspricht.“
Welche Ursachen hat Orthorexie?
Janssen: „Orthorexie kommt meist schleichend. Zu Beginn besteht der Wunsch nach einer möglichst gesunden Ernährung, mit der Zeit wird die Suche nach noch gesünderen Lebensmittel zur Lebensaufgabe. Das führt dann zur sozialen Isolation.“
Wie erkenne ich Orthorexie-Symptome?
Janssen: „Wer folgende drei Fragen mit Ja beantwortet, sollte sich eventuell in Behandlung begeben: 1. Würden Sie eine Einladung zum Essen ausschlagen, weil Sie Angst haben, dass dort nichts Gesundes auf den Teller kommt? 2. Verbringen Sie mehr als eine Stunde pro Tag mit der Auswahl gesunder Lebensmittel? 3. Würden Sie lieber nichts essen als etwas, das Sie nicht ganz zweifelsfrei als gesund einstufen können?“
Hat Orthorexie körperliche Folgen?
Janssen: „Extreme Stress-Symptome sind möglich und auch eine potenzielle Mangelernährung. Das ist sehr schädlich für die Betroffenen. Bei uns leidet rund ein Prozent der Bevölkerung daran, die Tendenz ist steigend.“
Muss Orthorexie behandelt werden?
Janssen: „Ja, denn es besteht die große Gefahr, dass das Verhalten immer zwanghafter wird und die Isolation zunimmt. Auch wenn es keine Therapieleitlinien gibt, sind Psychologen die richtige Anlaufstelle dafür.“