Ich wohne in Berlin Kreuzberg an der Grenze zu Neukölln und da hat im letzten Sommer eine kleine Schneiderbude aufgemacht. Im Schaufenster dieses Ladens hing ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Ist mir egal, ich lass das jetzt so“. Mir wäre dieses Shirt gar nicht aufgefallen, wäre mein Mann nicht vor dem Laden stehen geblieben – und das macht er sonst nie. Er hat auf das T-Shirt gezeigt und gesagt: „Mag ich“. Ich konnte nicht verstehen, worin der Reiz dieses mausgrauen Teils bestand. Es hatte einen Rundausschnitt wie die fünf Euro Normaloshirts bei H&M und war mit diesem für mich nichtssagendem Spruch versehen. Abgesehen davon, dass ich sowieso keine Shirts mit Sprüchen drauf trage. Erst recht hab ich geguckt, als nach ein paar Wochen jeder Dritte im Kiez dieses T-Shirt trug, Zeitungen es als hip abdruckten und dieser Spruch sogar dauernd zitiert wurde. Ich fragte meinen Mann, worin der Zauber dieses Kleidungsstückes lag, und er gab mir eine hochgradig soziologisch-philosophische Antwort, die ich hier nur sinngemäß wiedergeben kann: In unserem Zeitalter der Beschleunigung und der Perfektionierung gelte es, genau diese Stresskette zu unterbrechen und nicht alles immer noch besser machen zu wollen. Oft reiche es vollkommen aus, Dinge einfach so zu lassen, wie sie gerade sind. Die frei gewordene Zeit könnten man gut dafür verwenden, an der Ecke einen Kaffee zu trinken, sinnfrei in der Sonne herum zu sitzen oder anderweitig die Seele baumeln zu lassen. Das käme heutzutage nämlich auffallend zu kurz. Jo, hab ich gedacht, stimmt, und kaufte mir so ein Shirt.
Ich arbeite seit 15 Jahren mit The Work von Byron Katie, helfe anderen, ihre belastenden Gedanken aufzulösen und bessere, stressfreiere Perspektiven zu sehen. Oft haben Menschen, die für einen Einzelsitzung oder ins Seminar zu mir kommen, kaum Probleme mit anderen Menschen oder Dingen. Das größte Problem haben sie mit sich selbst. Sie geben sich die allergrößte Mühe, ein guter Mensch zu sein, sich weiterzuentwickeln, freundlich und aufgeschlossen zu sein, hilfsbereit, großzügig, gebend, engagiert und selbstlos. Noch dazu möchten sie, dass ihnen dieser Lebensweg leicht fällt. Es ist doch schön, anderen zu helfen, nützlich zu sein, eine gute, liebende, treue Partnerin zu sein, eine hilfsbereite, fleißige Kollegin und treu sorgende Mutter, die immer ein Ohr für ihre Kinder hat. Und es kann doch auch nur gut sein, mehr Sport zu treiben, belesener zu sein und dadurch schlauer. All das ist so gut gemeint. Und doch oft so stressig.
Muss ich besser sein, als ich bin?
Natürlich, sich redlich bemühen, hat einen guten Ruf. Wie sinnvoll ist dieses Bemühen aber, wenn es mir Druck und Stress macht? Ist es dann nicht kontraproduktiv? Vor zwei Wochen kam eine Frau, ich nenne sie mal Claudia, mit folgendem belastenden Gedanken für eine Einzelsitzung zu mir: Ich muss besser sein. Claudia hatte nun schon so viele Bücher über Lebenskunst, Stressverringerung und Selbstoptimierung gelesen und immer noch nicht das Gefühl, ein besserer Mensch geworden zu sein. Das quälte sie sehr. Auch ihr Mann sagte, sie könne diesen Quatsch doch jetzt wieder lassen und müsse infolgedessen auch nicht mehr so viel Geld für Seminare zum Fenster hinauswerfen, die ja doch nichts brächten. Diesen Glaubenssatz hinterfragten wir mit den vier Fragen von The Work und verkehrten in am Ende in sein Gegenteil.
Ich bat sie, sich zu entspannen, es sich gemütlich zu machen und in Ruhe die Antworten auf die Fragen auftauchen zu lassen. Dann fragte ich sie die erste Frage: Ist das wahr? Ist das wahr, was Du da glaubst? Ist es wahr, dass Du besser sein muss? Claudia lehnte sich zurück, wartete auf ihre Antwort und sagte dann: „Ja.“ Ich fragte sie die zweite Frage: Kannst Du absolut sicher sein, wirklich einhundertprozentig, dass Dein Gedanke wahr ist? Dass Du besser sein musst? Ich sah Claudia aufatmen. Sie sagte: „Nein, einhundertprozentig nicht.“ Und lachte. Es sah aus, als würde sich in ihrem Körper schon etwas entspannen. Nur dadurch, dass sie sich nicht sicher sein konnte, ob dieser Gedanke, der sie belastete, überhaupt stimmte. Die dritte Frage von The Work lautete: Wie reagierst Du, wenn Du diesen Gedanken glaubst? Claudia stöhnte. „Oh, dann ist da so ein Druck auf meinen Schultern und hier im Brustkorb. Und ich verstehe das nicht. Ich will doch etwas Gutes. Ich bin dann gereizt und genervt und sehe vor allem, was ich NICHT schaffe. Ich sehe, wie mein Mann den Kopf schüttelt, und ich würde ihm so gern beweisen, dass die Seminare nicht umsonst sind. Puh... Das ist ganz schön stressig.“ Und wer wärest Du ohne diesen Gedanken? Damit fragte ich Claudia die vierte Frage von The Work: Wenn Du nicht mehr glauben würdest, dass Du besser sein musst, als Du jeweils gerade bist? Claudia schien verwirrt. „Ohne den Gedanken? Aber dann würde ich ja aufhören, an mir zu arbeiten, und das wäre nicht gut ...“ Ok, sagte ich und holte sie zur vierten Frage zurück: In diesen Momenten, wo Du es nicht schaffst, besser zu sein (denn nur in solchen Momenten taucht der Gedanke ‚Ich sollte besser sein‘ ja überhaupt auf), wer wärest Du in solchen Momenten, wenn Du nicht glauben würdest, dass Du besser sein musst? „Oh!“ sagte Claudia, „das wäre fantastisch!“ Sie atmete ein und ein dickes Lachen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Super! Dann wäre ich einfach so, wie ich halt gerade bin. Dann muss ich nicht anders sein und das entspannt mich total.“
Die Umkehrung des Gedankens
Ja, sagte ich, das bringt uns gleich zur ersten Umkehrung: Ich muss nicht besser sein. Wieso ist das denn wahr? Kannst Du mir dafür ein Beispiel geben? „Na ja, weil mir der Gedanke so einen Stress und Druck macht! Das kann ich jetzt sehen. Ich muss nicht besser sein, wenn es gerade nicht geht. Denn, dann geht's ja eben gerade nicht...“, sagte sie und lachte. „Ach, das ist ein schönes Gefühl.“ Hast Du noch ein Beispiel, warum diese Umkehrung, also das Gegenteil von Deinem stressigen Gedanken, für Dich stimmt? „Eigentlich“, sagte Claudia, „hat niemand von mir verlangt, dass ich besser sein muss. Das war nur meine Idee. Und die war eigentlich mal aus dem Wunsch geboren, mir mein Leben entspannter zu gestalten. Mannomann! Und nun habe ich damit so lange herumgebastelt, dass mir diese gut gemeinte Sache eher wieder Stress bereitet. Verrückt!" Fällt Dir noch ein drittes Beispiel für die Umkehrung ein, dass Du nicht besser sein musst? „Ja, also, wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, was ‚besser‘ eigentlich heißt. Was soll denn das sein? Besser als wer? Besser als was? Was ich wirklich will, ist, mich mehr am Leben zu freuen. Das ist es doch! So wie jetzt!“ Sie lachte wieder. „Ohne mir Stress zu machen!“ Ich stand auf und zeigte ihr mein T-Shirt. „Ach was!“ sagte sie und staunte. „Lustig!“ Eine Woche später bekam ich eine Mail von Claudia. Sie war immer noch glücklich, dass sie jetzt nicht mehr besser sein musste. Al- les, was sie in Seminaren und aus Bü- chern gelernt hatte, konnte sie jetzt anwenden. Wenn sie wollte. Wenn es ihr keinen Druck machte. Und wenn sie keine Lust dazu verspürte, konnte sie einfach die Nase in die Sonne halten. Mit dieser Regelung war übrigens auch ihr Mann sehr zufrieden.
In ihrem Buch „Ich brauche Deine Liebe – stimmt das?“ beschreibt Byron Katie, wie schön unser Leben manchmal ist. Wie wir vielleicht in einem Sessel sitzen und einen Moment erwischt haben, wo alles gut und sehr gemütlich ist. Wir tun nichts weiter als diesen Moment zu genießen. Bis der Gedanke auftaucht, es könnte noch ein bisschen gemütlicher sein, wenn wir uns noch ein Kissen holen würden ... Unter der Überschrift: „Der Gedanke, der Sie aus dem Paradies vertreibt“, schreibt sie: „Ohne diesen Gedanken sind Sie im Paradies – Sie sitzen einfach in Ihrem Sessel. Was erleben Sie nun, wenn Sie dem Gedanken Glauben schenken, dass Ihnen irgendetwas fehlt? Der Soforteffekt mag subtil sein – nur eine leichte Unruhe, wenn sich Ihre Aufmerksamkeit von dem abwendet, was Sie schon haben. Auf der Suche nach Behaglichkeit machen Sie es sich unbehaglich. Die meisten Leute sind so eifrig dabei, irgendwelche Verbesserungen vorzunehmen, dass sie es gar nicht merken, wenn sie das Paradies verlassen haben. Wo immer sie sind, irgendetwas oder irgendjemand könnte stets besser sein.“
Verschieben Sie nicht das Glücklichsein
Die Gedanken daran, was ich eigentlich noch tun müsste, wie ich sein müsste, wie ich aussehen müsste (wenn ich mir nur etwas Mühe geben würde, ein bisschen mehr Sport machen würde und mich beim Essen etwas zügeln würde) und wie mein Leben eigentlich sein müsste, halten mich auf Trab. Sie suggerieren mir, dass ich erst noch etwas tun muss, bevor ich mich wohl fühlen und mich entspannen darf. Immerzu verschiebe ich mein Glücklichsein auf später. Auf einen Zeitpunkt, zu dem ich mich selber zu einem besseren Menschen gemacht habe, alles optimiert ist und ich endlich gelernt habe, mich am Riemen zu reißen. Aber wann wird das sein?
Ja, die Menschheit will sich entwickeln, nicht stehen bleiben, immerzu vorwärts und schneller, weiter, höher. Und wenn ich dabei Freude, Lust und Neugier verspüre, ist das auch gar nicht belastend. Sobald aber ein „muss“, „müsste“, „sollte“ oder „eigentlich“ auftaucht, handelt es sich meist um einen Gedanken, der Stress auslöst. Einen Selbstoptimierungsgedanken. Der ist zwar gut gemeint, aber nicht gut umsetzbar. Solche belastenden Glaubenssätze können wir mit Hilfe von The Work finden, überprüfen und meist auch auflösen. An die Stelle der Belastung tritt dann etwas Nützlicheres und Friedlicheres. Etwas, das mehr Freude ins Leben bringt. Und wenn mehr Freude in meinem Leben ist, mache ich mir meist auch gar nicht mehr so viele Ge- danken darum, was alles besser sein müsste. Dann lebe ich einfach. Und das ist herrlich. Einfach herrlich.