
Zwischen Hygiene und Gruppendruck
Nun ist es Geschmacksache, ob man haarlos oder haarig für erotischer befindet. Aber: Je mehr Menschen etwas machen, desto eher wird das auch zur Norm. Damit ändert sich auch unser Geschmack. Und wir gewöhnen uns ja an fast alles – ich erinnere da nur einmal an die Mode der 80er, die wir damals für sensationell hielten. Und wir alle wissen, wie peinlich wir später darauf zurückschauten. Aber zurück zur Nacktheit. Eine Studie des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie der Universität Hamburg stellte fest, je jünger die Menschen, desto verbreiteter ist die Enthaarung. 81% der 16- bis 19-jährigen Jungen und 94% der gleichaltrigen Mädchen entledigen sich ganz oder zumindest teilweise der lästigen Behaarung. Das geht soweit, dass die ersten Härchen gezupft werden, sobald sie das Licht der Welt erblicken. So mancher weiß gar nicht, wie er oder sie behaart aussehen würde! Und wer traut sich vor allem in dem Alter schon, gegen den Strom zu schwimmen und Flagge pardon Haare zu zeigen? Das bedeutet, dass da eine ganze haarlose Jugend heranwächst!
Angeblich ist haarlos ja auch hygienischer. In Scham- und Achselhaaren werden Millionen von Bakterien vermutet. Diese gilt es auszumerzen. Zu meiner Zeit war das alles anders. Da ging es um puren Sex. Eine nackte weibliche Scham stellte eindeutig eine sexuelle Provokation dar. Und ich liebte es zu provozieren. Männer hingegen trugen ihr Schamhaar unbedenklich zur Schau, stutzten es höchstens hier und da, um Frauen den Oralverkehr schmackhafter zu machen. Denn wer mag schon Haare zwischen den Zähnen. Ich erlebte mein blaues Wunder, als ich Anfang der 2000er vom modisch leicht verschlafenen Kiel ins trendige Hamburg zog. Oh mein Gott, dachte ich, als ich hier in der Sauna die erste vollkommen nackte männliche Scham sah. Da baumelte so ein armer kleiner Penis, so verletzlich und schutzlos den Blicken ausgesetzt, am Mann herum. Und es folgten unzählige Anblicke dieser Art, denn ich bin eine fleißige Saunabesucherin. Wie schon angedeutet, war es ja nun nicht so, dass ich Intimfrisuren nicht gekannt hätte. Aber diese vollkommene Nacktheit fand ich weder männlich noch attraktiv. Und absolut gewöhnungsbedürftig. Doch man gewöhnt sich an alles. Und das tat auch ich. Zumindest in Maßen.
Neigt sich das Zeitalter der Haarlosigkeit dem Ende zu?
Nun bin ich aber froh, dass Trends die Angewohnheit haben, zu kommen und zu gehen. Und das Beispiel Männerbart zeigt hier ganz deutlich eine Wende weg von der totalen Nacktheit. Nicht mehr nur in den hippen Stadtteilen der Großstädte wuchert es in den Gesichtern. Während ich hier in meiner Lieblingsbar in Ottensen sitze und schreibe, trägt draußen vor dem Fenster bald jeder zweite Mann über dreißig Jahre Gesichtsbehaarung. Je rauschiger und dichter, desto besser. Der Revoluzzer muss sich schon etwas sehr Besonderes einfallen lassen, um hier noch aufzufallen. Nur schade, dass ich nicht sehen kann, was sich unter der Kleidung abspielt. Denn zu einem Rauschebart passt doch wohl kein kahlrasierter Männerkörper, oder? Auch in Sachen weiblicher Körperbehaarung tut sich etwas. Immerhin wird mittlerweile wohlwollend als „retro“ bezeichnet, wer sich traut, Schamhaare zu tragen. Frauen mit einem flauschigen Dreieck zwischen den Beinen werden zunehmend als weiblich und Gerüche wieder als erotisch und animalisch befunden. Also, stehen wir vor einer kompletten Trendwende? Tragen wir bald alle wieder Kopf-, Brust-, Bein- und Achselhaare? Nein, das nun wieder glaube ich nicht. Dafür ist die Gesellschaft heutzutage zu heterogen, lassen sich Bewegung und Gegenbewegung genügend Spielraum, um friedlich nebeneinander zu existieren. Wir werden daher sowohl das eine als auch das andere finden. Doch es scheint, als habe unser Geschmack auch einfach Grenzen. Denn die Achselhaarvorstöße seitens Madonna und Miley Cyrus verliefen sang- und klanglos im Sande. Nichts zu machen. Achselhaare sind out.
Anja Drews, Sexualwissenschaftlerin für ORION